— von Hamit Duran, Turgi —

Im Gegensatz zu den Büchern, die wir bis jetzt rezensiert haben, handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um einen Band, der wissenschaftliche Beiträge rund um das Thema Islam und Psychologie in ihrer deutschen Übersetzung zusammenfasst. Dabei handelt es sich sowohl um theoretische als auch anwendungsorientierte Fachbeiträge, die sich einerseits mit der Beziehung zwischen der modernen Psychologie und den Arbeiten muslimischer Gelehrter auf diesem Gebiet befassen, und andererseits die Idee, eine eigene islamische Psychologie zu etablieren, aufgreifen und diskutieren.

Bevor aber die eigentlichen Fachbeiträge vorgestellt werden, beleuchten die Herausgeber in einem einführenden Beitrag Gegenstand und Geschichte der islamischen Psychologie. Es zeigt sich, dass ein Grossteil der Schriften, die für die Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie von Bedeutung sind, in die sogenannte Blütezeit des Islam vom 9. – 13. Jahrhundert fallen. Diese stammten von namhaften Gelehrten wie Al-Kindi, Al-Farabi, Al-Ghazali und anderen, welche sich mit Themen wie «Ruh» (Geist), «Nafs» (Seele, Persönlichkeit, Ego), «Fitra» (Veranlagung), «’Aql» (Intellekt, Verstand) und «Qalb» (Herz) auseinandersetzten. In der darauffolgenden Phase des Niedergangs vom 14.–19. Jahrhundert nahmen entsprechende Arbeiten ab, um dann im 20. und 21. Jahrhundert eine Wiederbelebung zu erfahren, wohl als Folge der Konfrontation mit den aufkommenden modernen Wissenschaften im Westen.

Der vorliegende Sammelband gibt einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion in den letzten 40 Jahren und stellt die zentralen Aspekte der gegenwärtigen Diskussion vor. Die Herausgeber umreissen dabei den theoretischen Rahmen und erklären die Auswahlkriterien der zusammengestellten Arbeiten.

Die Autoren der Beiträge stammen aus verschiedenen muslimischen Ländern oder Ländern mit muslimischen Minderheiten wie z.B. Indien, Pakistan, Malaysia, Deutschland, USA, Grossbritannien etc. Darunter sind solche, die die westliche Psychologie ablehnen da sie diese nicht als mit dem Islam vereinbar betrachten, und solche, die versuchen, Brücken zu schlagen um die gegenseitige Befruchtung zu fördern. Die meisten Autoren scheinen sich aber darüber einig zu sein, dass eine eigenständige islamische Psychologie entwickelt werden sollte.

Die Beiträge sind in 3 Abschnitte gegliedert: Historische Aspekte, Grundlagen für das theoretische Fundament und anwendungsorientierte Arbeiten. Bemerkenswert ist, dass der erste Abschnitt erst auf Seite 85 von insgesamt knapp 400 Seiten beginnt. Der bereits oben erwähnte Einführungsbeitrag der Herausgeber nimmt also einen äusserst prominenten Teil des Sammelbandes ein, was doch sehr ungewöhnlich ist.

Im ersten Abschnitt fassen zwei Autoren die Forschungen früher Muslime über die menschliche Natur zusammen. Der betreffende Wissenszweig wurde «’Ilm-ul-Nafsiyat» (Selbsterkenntnis) genannt. Dazu gehören Arbeiten von Al-Kindi, At-Tabari, Al-Balkhi und anderen im 9. Jahrhundert, Ibn Sina und Al-Ghazali und anderen im 11. Jahrhundert und Ibn Rushd, Ar-Razi und Ibn Arabi im 12. Jahrhundert. Darin werden neben den bereits erwähnten Begriffen Ruh, Nafs, Fitra, ’Aql und Qalb auch die Zustände des Nafs behandelt: «Nafs-ul-Ammârah» (eine Seele, die zu Bösem verleitet, «Nafs-ul-Lawwâmah» (eine Seele, die tadelt und die Moral berücksichtigt) und «Nafs-ul-Mutma’inna» (die friedvolle Seele, die das Böse besiegt hat). All diese Begriffe basieren auf dem Qur’ân und den Ahadith, d.h. den Aussprüchen des Propheten Muhammad. Erwähnenswert ist auch, dass bereits im 9. Jahrhundert die weltweit erste psychiatrische Station als Teil eines islamischen Krankenhaussystems in Bagdad eröffnet wurde.

Der zweite Abschnitt des Bandes wird eingeleitet durch einen sehr sonderbaren Beitrag, der die Diskussion zwischen einem muslimischen und nichtmuslimischen Wissenschaftler nachzeichnet. Anlass dazu war offenbar ein Kongress im Jahre 2002 in Teheran, an dem beide über mögliche Grundlagen einer islamischen Psychologie debattierten. Man hat manchmal den Eindruck, dass beide Wissenschaftler ziemlich aneinander vorbei argumentieren, und dass es nahezu unüberwindbare Gräben zwischen der islamischen und westlichen Psychologie gibt. Auf den Schreiber dieser Zeilen wirkte das streckenweise sehr befremdlich. Andere Beiträge in diesem Abschnitt sind glücklicherweise sehr viel pragmatischer und versuchen, eine konkrete Definition der islamischen Psychologie zu geben und eine Beziehung zur westlichen Psychologie herzustellen. Leider lassen einige Arbeiten wissenschaftliche Tiefe und Exaktheit vermissen.

Im letzten Abschnitt geht es dann um die konkrete Arbeit von muslimischen Psychologen und Psychotherapeuten. Auch hier zeigt sich, dass es in der Praxis solche gibt, die nicht daran glauben, dass die westliche Psychotherapie wirkliche Hilfe für Muslimen bieten kann. Auf der anderen Seite gibt es auch einen Beitrag, der die Arbeit zweier pakistanischer Wissenschaftler zusammenfasst, welche mittels eines eigens dafür entworfenen Fragebogens die Spiritualität von muslimischen Studenten in Pakistan quantitativ zu erfassen suchen. Die Resultate werden in einer Tabelle, die sich über 5(!) Seiten erstreckt, präsentiert.

Den Abschluss des vorliegenden Werkes bildet ein berührender Aufsatz einer jungen muslimischen Psychologin aus den USA. Darin schildert sie ihren ganz persönlichen Werdegang in einem Umfeld, das der Psychologie eher kritischen gegenüberstand, nach dem Motto: «Muslime brauchen sowas nicht.». Trotzdem liess sie sich nicht entmutigen und studierte an der renommierten Stanford-Universität Psychologie. Mittlerweile leitet sie das «Muslims and Mental Health»-Labor an der selbigen Universität und leistet wichtige Beiträge zur Historie verschiedener psychiatrischer Erkrankungen wie der Phobie, Angststörung etc. wobei sie diese aus den Werken früher muslimischer Gelehrter erarbeitet.

Es ist anzumerken, dass sich viele Beiträge an ein Fachpublikum richten und ein mehr oder weniger fundiertes Fachwissen voraussetzen, über das ein Laie nicht verfügt. Daher sind manche Artikel sehr schwer bis kaum verständlich. Hier eine kleine Kostprobe:

«Nach dem Ausschluss von Items mit niedriger Corrected Item to Total Correlation in jeder Domäne (<.30) wurde für 101 Items eine Hauptkomponentenanalyse mit obliquer (Promax) Rotation durchgeführt. Acht eindeutige Faktoren wurden extrahiert: 1) Selbstdisziplin, 2) Frage und Suche nach dem Göttlichen, 3) Wut und expansives Verhalten, 4) Selbstverherrlichung, 5) Verbundenheitsgefühl mit Allah, 6) Geiz-Großzügigkeit, 7) Toleranz-Intoleranz und 8) islamische Praktiken. Es wurden eine moderate bis hohe interne Reliabilität und gute Konstrukt- und Kontentvalidität ermittelt.»

Alles in allem bietet der Sammelband aber eine sehr interessante Möglichkeit, sich ein Überblick über die historischen Wurzeln und die aktuelle Situation der islamischen Psychologie zu verschaffen.

                                                                                                                                                                                               

Zu den Herausgebern

Paul Kaplick hat Angewandte Psychologie in München studiert. Er ist Leiter der Islam und Psychologie-Forschungsgruppe in der islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe. Er hat während seines Bachelors als Stipendiat an der Fakultät für Psychiatrie an der Oxford Universität geforscht und war am Max Planck Institut für Psychiatrie und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der LMU München tätig. Er absolviert gegenwärtig sein Graduiertenstudium an der Universität Amsterdam im Bereich der Hirn- und Kognitionswissenschaften und spezialisiert sich in der translationalen Stressforschung.

Dr. med. Ibrahim Rüschoff hat Pädagogik und Medizin studiert und ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger oberärztlicher klinischer Tätigkeit ist er als Ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis mit überwiegend muslimischen Patienten niedergelassen. Seit Jahrzehnten ist er aktiv im Bereich der psychosozialen Versorgung von Muslimen und tätig als Fachautor und Fachreferent. Er ist Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland sowie der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e.V. (IASE).

 

Bibliografie

Ibrahim Rüschoff,  Paul M. Kaplick (Hrsg.), Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis, 2018, 386 Seiten, broschiert, 39,90 €, ISBN 978-3-8309-3821-7