Lesen Sie hier den Artikel aus der NZZ vom 20. März 2010:

 

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Zwischen Staatsordnung und Religionsfreiheit

Das Bundesgericht und der Islam

Im Umgang mit minoritären Religionen zählen letztlich Toleranz sowie Vernunft beim Aushandeln konkreter Lösungen. Die Verfassung setzt indessen wichtige Leitplanken. Der folgende Beitrag zeigt anhand von Bundesgerichtsurteilen zu Streitfragen mit Bezug auf den Islam, wie der Staat einerseits Ordnung, anderseits Freiheit zu gewährleisten hat. Bei den Streitfragen des Religionsverfassungsrechts stehen sich zwei Blickwinkel gegenüber: Man geht entweder vom Staat als nötiger Ordnung oder von der Freiheit als höchstem Verfassungswert aus. Entsprechend unterschiedlich lauten die Entscheide des Bundesgerichts, vom Kopftuchverbot für Lehrerinnen bis zum Dispens vom Schwimmunterricht. Den Unterschieden liegt eine folgerichtige Differenzierung zugrunde.

Die religiöse Neutralität der Schule

Ein wohlgeordneter Staat ist nötig, um das friedliche Zusammenleben der Menschen zu sichern. Nur so war die Überwindung der Religionskriege nach der Reformationszeit möglich. Der Staat bildet eine Ordnungskraft im polizeilichen Sinn, darf jedoch nicht zum «Polizeistaat» und zur Diktatur ausarten. Deshalb wird die Staatsgewalt begrenzt, vor allem durch Grundrechte, wozu die Religionsfreiheit gehört (Art. 15 Bundesverfassung). In der Gewährleistung des friedlichen Zusammenlebens der Menschen liegt recht eigentlich die Staatsräson eines modernen, kulturell und religiös offenen Gemeinwesens.

Mit dem Kruzifixentscheid von 1990 hat es das Bundesgericht der Tessiner Gemeinde Cadro verboten, in den Unterrichtsräumen ihrer Schule Kruzifixe anzubringen (BGE 116 Ia 252). Der Staat muss die weltanschauliche Neutralität seiner Schule garantieren und darf sich mit keiner Konfession oder Religion identifizieren. Er muss vermeiden, dass Schülerinnen und Schüler sich «durch die ständige Präsenz des Symbols einer Religion, der sie nicht angehören, in ihrer religiösen Überzeugung verletzt fühlen». Der Entscheid folgt einem europaweiten Trend und geht in seinen Wurzeln auf das liberale Umfeld der Kulturkampftradition des 19. Jahrhunderts zurück. Auf derselben Argumentation steht das vom Bundesgericht 1997 bestätigte Kopftuchverbot für eine Genfer Lehrerin (BGE 123 I 296). Auch dort ging es um die weltanschauliche Neutralität der öffentlichen Schule; «der Einzelne kann sich diesbezüglich auf ein Individualrecht berufen». Das Urteil knüpft in seiner Begründung beim Kruzifixentscheid an, relativiert ihn aber zugleich mit dem Hinweis, «eine antireligiöse Haltung» sei «ebenso wenig neutral», und weist auf die Zulässigkeit der öffentlichrechtlichen Anerkennung von Landeskirchen hin.

Kritik am Kopftuchverbot

Das Kopftuchverbot ist eine Einschränkung der Religionsfreiheit und muss den Anforderungen von Art. 36 BV genügen: eine gesetzliche Grundlage haben, im öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sein und den Kerngehalt unberührt lassen. Prekär ist beim Kopftuchverbot nicht zuletzt die Verhältnismässigkeit. Sie erlaubt den Grundrechtseingriff nur, soweit ihn das öffentliche Interesse verlangt. Das Bundesgericht lässt jedoch offen, ob nicht ein weniger weit gehender Eingriff, zum Beispiel das Verbot nur im Fall einer Beanstandung, genügt hätte. So bleiben Zweifel an der Verhältnismässigkeit des Entscheids. Für seine Zulässigkeit spricht immerhin, dass er nicht für Schülerinnen, sondern für Lehrerinnen gilt, die in besonderer Weise die öffentliche Hand vertreten.

Eine Mehrheit der Schweizer Staatsrechtslehre hat den Kopftuchentscheid als zu weit gehend kritisiert. Denn die Religionsfreiheit steht grundsätzlich auch einer Volksschullehrerin zu, und es kommt einer unzulässigen Diskriminierung nahe (Art. 8 Abs. 2 BV), ihr das Tragen von Zeichen einer fremden Religion wie des Islams kurzerhand zu verbieten. Das würde letztlich zur Bundesverfassung von 1848 zurückführen, wo in Art. 44 die Kultusfreiheit nur «den anerkannten christlichen Konfessionen» zustand und das Christentum von Rechts wegen den Status einer Leitkultur hatte. Auch widerspräche ein solches Vorgehen der europäischen Menschenrechtskonvention, deren Art. 9 die Religionsfreiheit universell gewährleistet.

Tradition der Schuldispense

Vom entgegengesetzten Blickwinkel aus gibt überhaupt erst die Freiheit dem Staat eine Legitimation und ein materielles Ziel. Sie muss natürlich wiederum eingeschränkt werden, damit die Ordnung aufrechterhalten bleibt. So ist es an den öffentlichen Schulen der Schweiz Tradition, Schülerinnen und Schüler aus religiösen Minderheiten vom Schulbesuch an ihren Feiertagen zu dispensieren, wenn dies in verhältnismässigem Umfang bleibt. Diese Praxis kam zu Zeiten, als der Samstag noch nicht schulfrei war, vor allem Angehörigen des jüdischen Glaubens zugute. In vergleichbarem Umfang und so lange die Feiertage der christlichen Bevölkerungsmehrheit allgemein schulfrei sind (z. B. Sonntage, Weihnachten, Karfreitag, Auffahrt), steht anderen Religionen wie etwa dem Islam derselbe Anspruch zu. Das folgt aus dem Diskriminierungsverbot und der Religionsfreiheit der Bundesverfassung. Für das Nachholen dadurch versäumter Lerninhalte sind die Schülerinnen und Schüler beziehungsweise ihre Eltern selbst verantwortlich.

Nicht nur zwingende Normen zu achten

In diesen Strang der Judikatur gehört die Befreiung einer muslimischen Schülerin vom Schwimmunterricht. Das Bundesgericht hat ihr und ihrem erziehungsberechtigten Vater 1993 einen Dispens vom koedukativen Schwimmunterricht gewährt, damit sie ihr Leben auch in der Schule an den für sie gültigen Vorschriften des Islams ausrichten konnten (BGE 119 Ia 178). Hier argumentiert das Bundesgericht umgekehrt wie im Kopftuchentscheid. Es gesteht der Religion so viel Freiheit wie möglich zu und begrenzt die staatliche Einschränkung aufs Nötige, um den «geordneten und effizienten Schulbetrieb» aufrechtzuerhalten. Nicht die Glaubensbetätigung, sondern ihre staatliche Einschränkung muss begründet werden. Das kommt der Einsicht entgegen, dass der säkulare Staat Religion vernünftigerweise weder definieren kann noch soll.

Wichtig ist dieser Entscheid schliesslich wegen der Präzisierung, dass «nicht nur die Befolgung imperativer Glaubenssätze» von der Religionsfreiheit gedeckt ist; «vielmehr erstreckt sich ihr Schutz auch auf Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine religiös motivierte Verhaltensweise zwar nicht zwingend fordern, die in Frage stehende Reaktion aber für das angemessene Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen (. . .).
Voraussetzung bleibt allerdings, dass solche Verhaltensweisen unmittelbarer Ausdruck der religiösen Überzeugung sind.» Öffentlichkeit und Staatsrechtslehre sind im Urteil über diesen Entscheid uneins. Denn beim Abwägen zwischen der Geschlechtergleichheit (Art. 8 Abs. 3 BV), verstanden auch als Erziehungsziel, und dem Elternrecht, bis zum 16. Altersjahr über die Religion des Kindes zu entscheiden (Art. 303 ZGB), entschied das Bundesgericht für die Eltern. Ein Aspekt der Kritik ist auch das Kindeswohl, aber für dieses hat der Gesetzgeber bis zum 16. Altersjahr in religiöser Hinsicht die Eltern verantwortlich erklärt. Mithin geht aufgrund der gesetzlichen Sondernorm die elterliche Gewalt hier vor, nicht nur bei muslimischen Kindern. Ob das unter dem Aspekt des Kindeswohls immer die schlechtere Lösung sei, ist offen.

Differenzierung und Konsequenz

Die einander jeweils entgegenstehenden Interessen sind prinzipiell gleichrangig. Zwar begünstigt das Wachstum des Islams in Europa tendenziell Einschränkungen der Religionsfreiheit. Doch muss das nicht heissen, das Bundesgericht nehme den Umfang der Freiheit grundsätzlich zurück. Für die nach wie vor liberale Seite der Praxis stehen die Feiertagsdispense.

Bei den hier behandelten Fällen ist eine gewisse, durchaus folgerichtige Differenzierung zu erkennen. Wo es um den Auftritt des Staates in Gestalt seiner Lehrerschaft und die dafür einzurichtenden Schulhäuser geht, zieht das Bundesgericht den Grundsatz der Religionsneutralität streng durch. Geht es um die Schülerinnen und Schüler, die ja nicht den Staat vertreten, ist der Freiraum entsprechend grösser; nicht von ungefähr kennt die Schweiz kein Kopftuchverbot für Schülerinnen.

Der Entfaltung harrt die Religionsfreiheit aber noch im Baubewilligungswesen: Solange die zonenrechtliche Ausnahme bei Kirchtürmen selbstverständlich ist, darf ein Minarett nicht ausgeschlossen sein. Nun begründet die Religionsfreiheit keinen Anspruch auf Abweichung vom Bau- und Raumplanungsrecht. Wird aber die Bewilligung für eine Moschee ausschliesslich wegen der Religion des Gesuchstellers verweigert, liegt eine verfassungswidrige Diskriminierung vor. Denn die Religionsfreiheit schützt nicht nur private, sondern auch öffentliche Manifestationen des Glaubens, etwa in Formen der Architektur.

Geht ein kantonaler Gesetzgeber von der Staatsräson der weltanschaulichen Neutralität aus, bleibt er den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns verpflichtet (Art. 5 BV): Er muss sich an «das Recht» halten, das öffentliche Interesse wahren und dem Prinzip der Verhältnismässigkeit folgen. Wer sich durch eine religiös geprägte Form staatlicher Selbstdarstellung in seiner Religionsfreiheit verletzt fühlt, kann die weltanschauliche Neutralität als Individualrecht einklagen. Zugleich ist die Entfaltung religiöser Neutralität, wo sie in die Religionsfreiheit Beteiligter eingreift, an die Voraussetzungen von Art. 36 BV gebunden: Sie muss dem Legalitätsprinzip folgen, dem öffentlichen Interesse dienen, verhältnismässig bleiben und den Kerngehalt wahren. Es ist an der Zeit, sich auf Kurt Eichenbergers Vision vom «Staat des Masses» zu besinnen!

* Der Autor ist Lehrbeauftragter an der Rechtsfakultät der Universität Freiburg. Der Artikel beruht auf einem Vortrag am Religionsforum der Universität Freiburg am 14. Dezember 2005.

 

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