Gemäss einem Bericht in der NZZ vom 28. März 2008 hat das Grundsatzpapier harsche Reaktionen provoziert. Die NZZ schreibt dazu:


*** Zitatanfang ***

«Die Genfer Freisinnigen verlangen Minarette im Stadtzentrum», meldet die welsche Sonntagszeitung «Le Matin Dimanche». Das ist zwar nicht ganz falsch, ganz richtig aber auch nicht. Für Aufregung ist dennoch gesorgt. Bereits hat die «Schweizerzeit» reagiert.
Journalismus ist, wie die klassische Musik, eine «Kunst des Kontrapunkts». Ausgerechnet in der Osterzeit schockte die welsche Monopol-Sonntagszeitung «Le Matin Dimanche» mit der aufregenden Schlagzeile: «Genfer Freisinnige: <Wir wollen Minarette im Stadtzentrum!>» Die FDP, so war zu lesen, möchte zudem die Ausbildung der muslimischen Imame fördern – ein wahres Kontrastprogramm zur kommenden eidgenössischen Volksinitiative gegen Minarette. Deren Vorreiter meldeten sich denn auch postwendend zu Wort. «Konvertiert die FDP zum Islam?», übertitelte die Redaktion der Zeitschrift «Schweizerzeit» einen Kommentar zur vorösterlichen Botschaft aus Genf. Hinter dem FDP-Vorstoss stehe ein muslimisches Parteimitglied, Ali Benouari. Und bissig fragt der Chefredaktor und vormalige SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, ob man sich darauf gefasst machen müsse, dass die Genfer FDP demnächst für den Abriss der Kathedrale Saint-Pierre eintrete, um einer Moschee Platz zu machen.

Grundsätzliches für den Verfassungsrat

Ist die FDP, jene Partei also, welche den modernen Kanton Genf 1845 aus der Taufe gehoben hat, drauf und dran, das einstige «calvinistische Rom» zur «Stadt Mohammeds» zu machen? Wenn man der Sache auf den Grund geht, ist alles wesentlich komplizierter – und nicht mehr ganz so aufregend. Grundlage des «Matin Dimanche»-Knüllers ist nämlich ein unspektakuläres Dokument, das die FDP Genf auf ihrer Website veröffentlicht hat. Es trägt den Titel «Liberté religieuse et paix confessionnelle» und präsentiert auf fünf Seiten einen Vorschlag, wie die religiöse Frage in einer neuen Kantonsverfassung geregelt werden könnte. Bekanntlich haben die Genfer Stimmbürger der Schaffung einer «Constituante» zugestimmt, die das kantonale Grundgesetz einer Gesamtrevision unterziehen soll; dieser Verfassungsrat wird im Oktober gewählt. Das FDP-Dokument zur Religion ist eines der Grundsatzpapiere, welche die Genfer Freisinnigen im Hinblick auf diese Revision vorlegen wollen.


Die Radicaux, wie sich die Freisinnigen in Genf nennen, verfechten eine «liberale Laizität», die auf fünf Grundprinzipien aufbaut: Glaubensfreiheit (einschliesslich der Freiheit, nicht zu glauben), die Freiheit, Gebets- und Kultorte zu errichten, konfessionelle Neutralität des Staates, Gleichheit der Bürger vor dem Zivilrecht unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit sowie konfessioneller Frieden. Die FDP erklärt, Genf sei im Verlauf der Zeit von einem «protestantischen Rom» zu einer «Rome laïque» geworden. 1907 wurde nach einer bewegten Kampagne das kantonale Gesetz für die Trennung von Kirche und Staat eingeführt; seither gilt in Genf, wie in Neuenburg und im Gegensatz zu den anderen Kantonen, das Prinzip der staatlichen Laizität. Seit mehr als hundert Jahren gibt es also in Genf keine Staatskirche mehr; auch gibt es keine obligatorische Kirchensteuer und keinen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen.


Keine Laizität ohne Ausnahmen


Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle religiösen Gemeinschaften absolut gleichberechtigt sind. Reformierte, Katholiken und die Altkatholiken (Christkatholiken) sind anerkannte Kirchen, die anderen nicht. Zudem werden die kantonalen Behörden nach wie vor in der reformierten Kathedrale Saint-Pierre vereidigt. Auch erhebt der kantonale Fiskus bei den kirchlich engagierten Steuerzahlern die (freiwillige) Abgabe für die staatlich anerkannten christlichen Kirchen.


Die FDP Genf möchte nun strikte Gleichberechtigung für alle, insbesondere für Christen, Juden und Muslime. Sie schlägt einen neuen Verfassungsartikel vor, der die Laizität und konfessionelle Neutralität des Staates und der öffentlichen Schule wie auch die Gleichheit aller Bürger, unabhängig von ihren religiösen oder nichtreligiösen Überzeugungen, festschreibt. Daneben enthält der vorgeschlagene Artikel einige schwammige und modische Wohlfühl-Formulierungen: So will die FDP Genf ausgerechnet den «konfessionell neutralen» Staat dazu verpflichten, die Toleranz und das Verständnis zwischen den Religionsgemeinschaften wie auch den interreligiösen Dialog zu fördern. Schliesslich aber enthält die Vorlage zwei kritische Forderungen: «La République et canton de Genève», wie es so schön heisst, garantiert den religiösen Gemeinschaften die Rechte, sich in zugänglichen und identifizierbaren (identifiables) Kulträumen zu versammeln und sich autonom zu finanzieren.


Islam nicht an die Ränder abdrängen

Man sieht: Der Vorschlag der FDP Genf enthält Zündstoff. Insbesondere stellt sich die Frage, was das Recht auf «identifizierbare» Kulträume genau bedeutet. Manche Genfer – und Nichtgenfer – fürchten nämlich, dass die Muslime damit uneingeschränkt das Recht erhalten, überall Moscheen und Minarette zu errichten, ja dass der Staat zu einer Islamisierung der Gesellschaft Hand bieten könnte. Die SVP Genf hat sich bereits in diesem Sinn geäussert.


Bei der FDP Genf ist man bemüht, solche Befürchtungen aus dem Weg zu räumen. Ex-Grossrat und Verfassungsratskandidat Pierre Kunz, von der NZZ in seinen Ferien auf den Kanarischen Inseln aufgeschreckt, erklärt beruhigend, die FDP wolle vor allem vermeiden, dass die Muslime marginalisiert und an den gesellschaftlichen und urbanen Rand gedrängt würden. Der «Matin Dimanche» habe die Sache natürlich zugespitzt und etwas verfälscht. Im Übrigen habe die FDP Kautelen eingebaut: So müssen die religiösen Gemeinschaften die schweizerische und die genferische Verfassungsordnung respektieren. Sie dürften sich zwar auf ihre Art finanzieren, diese Finanzierung müsse aber transparent sein. Damit soll vermieden werden, dass Sekten sich breitmachen können. Die Forderung ist aber auch ein Echo auf die Polemiken, die um die von Saudiarabien finanzierte grosse Moschee im Genfer Vorort Petit-Saconnex entbrannt sind.


Man sieht: Die FDP Genf hat sich also noch nicht zum Islam bekehrt. Dennoch stellt sich die Frage, ob es sinnvoll – und machbar – sei, das Prinzip der Laizität, der Egalité und der konfessionellen Neutralität des Staates bis in die letzten Konsequenzen auszureizen.
Ein Beispiel nur: Weshalb denn noch den Sonntag zum gesetzlichen Feiertag erklären – ist dies nicht «diskriminierend» gegenüber nichtchristlichen oder atheistischen Bürgern? Tröstlich nur: Trotz allen Bekenntnissen zur Laizität sind auch die Genfer noch nicht bereit, auf ihre Oster- oder Weihnachtsferien zu verzichten.

*** Zitatende ***

Dies scheint wieder einmal ein Paradebeispiel dafür zu sein, wie die Sonntags- und Boulevardpresse Tatsachen, bewusst oder unbewusst, verfälscht, um ihre Auflage zu stärken und wie sofort manche politischen Kreise begeistert auf diesen populistischen Zug aufspringen, um daraus Kapital zu schlagen. Einer sachlichen Diskussion ist dies sicherlich nicht zuträglich. Schade eigentlich.